Wer sich mit Gründergeist, Innovationsmanagement und Unternehmenskultur auseinandersetzt, findet in den Weiten der Bücherregale unendliche Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen.
Dabei gibt zu diesen Themen zwei Zugänge: Von denen lernen, die dazu geforscht haben – oder von denen, die es gemacht haben.
Ein gelungenes Beispiel für eine Fusion beider Perspektiven ist das kürzlich erschienene Buch „No Rules Rules“ des Netflix-Mitgründers Reed Hastings und der Professorin Erin Meyer, die an der INSEAD Business School forscht.
In vier Kapiteln beschreibt Reed Hastings die Erfahrungen, die er als Unternehmer gemacht, seine Vision für eine Unternehmenskultur und den Weg, den er für die Realisierung beschreitet. Erin Meyer schildert ihre eigenen Erfahrungen mit Netflix-Interview-Partnern, verortet und unterfüttert die Entscheidungen mit passenden Forschungsergebnissen.
Die Kultur von Netflix in zwei Stichwörtern: Freedom & Responsibility. Ausgedrückt wird das im Verzicht auf nahezu jegliche Regeln, die in börsennotierten Unternehmen zu erwarten sind – „No Rules Rules“ ist eben Programm. Keine ausufernden Reiserichtlinien, keine festen Urlaubstage. Mitarbeiter werden stattdessen mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet und sollen Entscheidungen eigenverantwortlich im Sinne des Unternehmens treffen. Das ist der Maßstab.
Mit knallhartem, ehrlichem Feedback, dem Anspruch die besten Mitarbeiter am Markt zu finden, mit stetigem Infrage stellen und Führung über Haltung statt über Arbeitsanweisungen, ist so immerhin eines der am schnellsten wachsenden Unternehmen entstanden. Und eines, das sich auch schon selbst neu erfunden und stetig verändert hat. Denn Netflix hat mit dem Post-Versand von DVDs begonnen, den US-amerikanischen Streaming-Markt aufgebaut und anschließend massiv in erfolgreiche Eigenproduktionen investiert – mit weltweitem Erfolg. Zurückhaltend ausgedrückt: Es gibt Indizien die dafürsprechen, dass Reed Hastings nicht ganz auf den Kopf gefallen ist.
Und was hat das mit UX Research zu tun?
Der geneigte Leser wird sich an dieser Stelle wohl endgültig fragen: Bin ich hier in den Bücherclub geraten und was hat das mit UX Research zu tun?
Irgendwie alles. Doch der Reihe nach. Wir springen zurück ins Jahr 2015. Der Wettbewerber Amazon Prime hat kürzlich ein Feature veröffentlicht, das Offline-Downloads ermöglichte. Lieblingsserien und Filme konnten für den nächsten Flug also heruntergeladen und auch ohne Internetverbindung angesehen werden
Sollte Netflix nun einen ähnlichen Service anbieten? Neil Hunt, Chief Product Officer, war dagegen. Die Begründung: Der Use Case würde mit immer besserer Internetverfügbarkeit irrelevant werden – wieso also erhebliche Ressourcen in ein Projekt stecken, das an Bedeutung abnehmen wird? Das war ganz auf Reed Hastings Linie, der sich öffentlichkeitswirksam positionierte und den Anwendungsfall ebenfalls als sich auflösende Nische sah. Zwischenzeitlich würde sich eben mit Kooperationen von Fluggesellschaften beholfen werden.
Der CEO hat gesprochen. Ende der Durchsage. Naja, nicht ganz. Denn der aufmerksame Netflix-Nutzer wird sich die Augen reiben. Ihr habt richtig gesehen, es gibt bereits seit einiger Zeit eine Download-Funktion bei Netflix.
Doch woher der Sinneswandel? UX Research! Ein Mitarbeiter von Neil Hunt und ein Senior UX Researcher namens Zach Schendel waren anderer Meinung als ihre Führungskräfte. Und so starteten sie mit einem UX Research. Dazu sprachen sie in den USA mit Amazon-Prime-Nutzern, in Indien mit Nutzern des YouTube-Download-Features und in Deutschland mit Watchever-Nutzern. Die Ergebnisse waren eindeutig. Je nach Land wurde das Download-Feature von 15 %-20 % (USA) bis hin zu 70 % (Indien) genutzt. Deutschland lag dazwischen, mit der eingängigen Anekdote: Das Internet ist nicht überall so stabil. Daher wurden sich im Wohnzimmer Inhalte heruntergeladen, um sie beim Kochen in der Küche ohne nervige Ladezeiten sehen zu können.
Die Folge der Ergebnisse: Keine gefeuerten Mitarbeiter. Stattdessen: Neil Hunt und Reed Hastings gaben unumwunden zu, sich komplett vertan zu haben. Und so begann die Entwicklung des Download-Features.
Was lernen wir daraus?
Der offensichtliche Punkt zuerst: UX Research ist in den richtigen Händen eine mächtige Waffe, die Unternehmensentscheidungen maßgeblich mitgestalten kann. Und häufig führt zum Glück kein Weg daran vorbei, sich mit Kunden und Zielgruppen zusammen zu setzen, Verhalten über Beobachtung, Interviews, Workshops zu verstehen und auf Basis von Bedürfnissen Lösungen zu entwickeln.
Doch das ist an dieser Stelle nicht die einzige Zutat: Denn ohne eine Unternehmenskultur, die offenen Diskurs und auch Dissens begrüßt und ohne Personen, die selbstständig arbeiten, denken und gestalten, wäre ein solcher Verlauf nicht denkbar gewesen.
Ebenso kann man nur den Hut vor Hastings und Hunt ziehen, im Schein neuer Erkenntnisse offen zuzugeben, falsch gelegen zu haben.
Einige Minuten nach dem Lesen des Abschnitts habe ich mir die Frage gestellt, wie viele unkonventionelle Lösungen und neue Entwicklungen es nicht in ein Produkt schaffen? Vom Management rund heraus abgelehnt, im Zuständigkeiten-Dschungel verloren gegangen oder einfach ignoriert.
Eine Kultur selbstständiger Entscheidungen und Verantwortungsübernahme wirkt damit umso attraktiver.
Doch für mich steckt noch eine Wahrheit in dieser Geschichte. Gilt es nicht auch, mehr Mut und weniger Ego beim Setup von UX Research in Form von UX-Tests aufzubringen? Statt drei nahezu identische Websites mit den Button-Farben Mittelblau, Royalblau und Azurblau zu testen, auch dem Außenseiter, an den man vielleicht selbst nicht glaubt, eine faire Chance über ein objektivierbares Verfahren zu geben? Denn „auf die da oben“ lässt sich einfach schimpfen, aber wir alle haben Überzeugungen und Zweifel, die wir in bester Absicht wahrscheinlich auch unbewusst einbringen und damit vielleicht das nächste Download-Feature verhindern.
Ist Reed Hastings damit der neue UX-Messias?
Um zum Abschluss keine falschen Erwartungen zu wecken. „No Rules Rules“ ist mitnichten die Bibel für UX Researcher und Reed Hastings lässt sich auch nicht näher über den Stellenwert von UX Research aus.
Was Hastings jedoch beeindruckend rüberbringt, sind eine klare Haltung, Überzeugungen und das aktive Formen einer Unternehmenskultur, die von Erin Meyer hervorragend auf den Punkt gebracht werden.
Das bedeutet nicht, dass davon alles automatisch erstrebenswert oder 1:1 umsetzbar ist. Deutschen Betriebsräten würde bei der Kapitelüberschrift „Adequate Performance gets a generous severance“ (Angemessene Leistung erhält eine großzügige Abfindung) zurecht das Herz stehen bleiben und für einige Entscheidungen sollte man sich vor Augen führen, dass mit vollem Geldkonto und einer enorm kompetitiven Umgebung wie im Silicon Valley die Uhren einfach anders ticken als in weiten Teilen Europas. Nichtsdestotrotz sprüht „No Rules Rules“ vor Inspiration und Überzeugung – etwas, das man nicht an jeder Ecke findet.
In diesem Sinne wünsche ich viel Mut, Überzeugung und Haltung beim nächsten UX Research!
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Basti ist Managing Director der Data Science Unit SKOPOS ELEMENTS.
Neben großen Datenmengen und quantitativen Analysen interessiert er sich für alles, das nur entfernt mit Gesellschaft und Digitalisierung zu tun hat.
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