e-Health UX: Die Schlüsselrolle der Nutzerzentrierung
Dustin Hesse im Interview über die Notwendigkeit einer nutzerzentrierten UX in der Healthcare Branche.
Kategorie: Gastbeitrag
Hey Dustin. Danke, dass Du Dir kurz Zeit nimmst. Wie geht es Dir? Wie blickst Du auf 2024?
Hi, danke für die Einladung! Mir geht es prima. 2024 wird ein spannendes Jahr. Ich freue mich auf einige spannende UX Events, wie die HOLY UX im März und bin gerade auch in die Planung für die nächsten Usability Testessen in Köln eingestiegen. Außerdem habe ich gerade mit zwei Mitstreiterinnen mit uxhealth.tech ein Blogprojekt gestartet, um Entwicklungen im Gesundheitswesen mit einer UX-Perspektive zu diskutieren. Im Gesundheitswesen haben wir nämlich auch gerade eine spannende Zeit vor uns. Es gibt einiges zu tun.
Was genau machst Du eigentlich gerade beruflich? Womit beschäftigst Du Dich?
Nach meiner Zeit bei NOVA war ich erst einmal bei einem Start-up, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die Arzt-Patientenkommunikation mit einem Online-Messenger zu verbessern. Da habe ich als User Researcher viel mit Ärzt:innen und Patient:innen über die Zukunft des Gesundheitswesens gesprochen.
Seit September 2023 bin ich nun bei einer gesetzlichen Krankenkasse im Onlineservices- und Plattformen-Team. Da geht es erst einmal viel darum, mit unseren Versicherten die kassenspezifischen Onlineservices noch nutzerfreundlicher zu gestalten. So eine Kasse hat über 1.000 Prozesse. Die sind teils auch schon digital umgesetzt, teils müssen sie noch digitalisiert werden. Das fängt für den Versicherten beim Online-Mitgliedsantrag an und umfasst dann natürlich auch zahlreiche Leistungsanträge, Erstattungen, unser Bonusprogramm, und vieles mehr. Und nun kommt neben unseren kassenspezifischen Leistungen für unsere Versicherten auch noch die Telematikinfrastruktur (TI) mit u. a. E-Rezept, elektronischer Patientenakte und TI-Messenger hinzu. Da eine möglichst einheitliche UX zu schaffen, ist eine große Herausforderung!
Welche Herausforderungen siehst Du im Gesundheitsbereich für die nächsten Monate oder Jahre?
Das E-Rezept ist nun seit Januar zum Standard geworden, der TI-Messenger für Versicherte wird im Sommer folgen und ab 2025 sollen dann alle Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) mit Opt-out-Option haben, die dann als Hub für alle gesundheitsrelevanten Akten und Fragen die Schlüsselrolle in der Digitalisierung des Gesundheitswesens spielen soll. Wir haben also – mögliche Verschiebungen mal ausgenommen – noch ein Jahr, um eine gute UX auf die Beine zu stellen und die Nutzer:innen dann auch wirklich abholen zu können.
Das Einsparpotential durch die Digitalisierung ist auf jeden Fall schon einmal enorm.
Ich habe neulich eine spannende Studie von McKinsey gelesen, nach der wir durch die Digitalisierung im gesamten Gesundheitswesen ein Einsparpotential von 42 Mrd. pro Jahr haben. Allein 7 Mrd. sollen davon auf die elektronische Patientenakte entfallen. Das liegt daran, dass u. a. Doppeluntersuchungen vermieden werden könnten. Ein Bekannter war vor Kurzem im Kontext einer nicht diagnostizierten Erkrankung im Krankenhaus. Es wurden Untersuchungen gemacht. Ein paar Tage später kommt er in ein anderes Krankenhaus, weil im ersten keine Betten mehr frei sind. Die Untersuchungen starten bei null. Mit einer gepflegten elektronischen Patientenakte hätte das Krankenhaus B den Untersuchungsstand von Krankenkhaus A nachschauen können – und somit ein paar Untersuchungen gespart. Das sind alles auch vermeidbare Mehrkosten für die Krankenkasse, die wir alle als gesetzlich Versicherte tragen.
Nun kann natürlich so ein Sparpotential, das in der Digitalisierung schlummert, nur realisiert werden, wenn die Nutzer:innen die digitalen Angebote auch annehmen und gerne nutzen. Und das klappt irgendwie noch nicht so richtig. Da kommt dann UX ins Spiel.
Es gibt im System ja unterschiedliche Parteien, Arztpraxen, Krankenkassen, Apotheken, etc. – stehen die alle vor der gleichen Herausforderung oder gibt es hier Unterschiede?
Bei der Digitalisierung stehen eigentlich alle erst einmal vor der gleichen Herausforderung, nämlich überhaupt erst einmal in die TI zu kommen und mit ihr zu interagieren. Die Arztpraxen und Apotheken brauchen da entsprechende Konnektoren, Kartenterminals und Zugangskarten. Und dann sind z. B. in den Arztpraxen teils sehr alte Systeme im Einsatz, sodass das Signieren eines E-Rezeptes schon einmal viel länger dauern kann als ein Papierrezept handschriftlich zu unterschreiben. Gleiches gilt für den Upload von Dateien in die ePA. Das ist dann natürlich keine gute User Experience. Hinzu kommt, dass man die Zeit aufbringen muss, sich mit der Technik auseinanderzusetzen und teils auch eine Digitalkompetenz aufzubauen.
Auf Seiten der Patient:innen ist es auch nicht so leicht. Ich brauchte im letzten Jahr neben der App für die ePA noch zwei weitere Apps, um meine ePA einzurichten. Erst einmal musste ich die Registrierung in der ePA-App starten. Dann brauchte ich eine weitere App, um mich mit meinem Personalausweis zu identifizieren. Das ging per NFC-Scan (also Perso an die Rückseite des Smartphones halten) und durch Eingabe der PIN des Persos. Die habe ich zum Glück noch in meinen Unterlagen gefunden – ohne sie jemals freigerubbelt zu haben.
Auf dem Brief zum Perso ist aber nur eine so genannte Transport-PIN. Ich musste daher erst einmal mit einer dritten App, der Ausweisapp2, die Transport-PIN gegen eine eigens vergebene PIN ersetzen. Letztlich bekomme ich nach erfolgreichem Prozedere einen Brief mit der PIN für meine elektronische Gesundheitskarte. Die elektronische Gesundheitskarte halte ich wiederum in der ePA-App an mein Handy und gebe die PIN dazu ein, bis ich letztlich in der elektronischen Patientenakte bin. Wer bis hierhin folgen konnte, hat meinen größten Respekt. Das ganze Prozedere dient natürlich der Sicherheit der Versicherten. Es geht hier perspektivisch um sehr schützenwerte Gesundheitsdaten. Aber es ist eben auch eine sehr große Herausforderung den Versicherten vor der ganzen Regulatorik und den technischen Bedienungen eine gute User Experience zu bieten.
Welche Rolle spielen UX – sowohl Design als auch Research – als Disziplin für diese Herausforderungen?
Wir brauchen eine bessere Nutzerführung. Wenn wir den Prozess selbst nicht ändern können, müssen wir die Nutzer:innen besser durchführen. Da müssen wir mit Research verstehen, woran sich die Nutzer:innen stoßen und mit Design den Prozess iterativ verständlicher machen.
Das soll uns jedoch nicht davon abhalten, immer wieder kritisch zu hinterfragen, ob es nicht doch auch anders geht. Den Perso ans Smartphone zu halten, ist schon weit entfernt von bisheriger Alltagserfahrung der Nutzer:innen. Ich kenne einige, die komplett überfragt sind, ob sie eine PIN zu ihrem Perso haben, teils auch unter 30 Jahren. Und wenn ich an meine Oma denke, die jetzt auf die 90 zugeht und gar kein Smartphone besitzt, erübrigt sich die Frage nach einer E-Rezept-App. Beim E-Rezept hat man aber gute Wege gefunden, indem man es ermöglicht hat, das Rezept auch nur durch Stecken der Gesundheitskarte in der Apotheke einzulösen. Das Stecken kennt man vom Arztbesuch ja auch.
Jetzt ist die Herausforderung, dass die Arztpraxis das E-Rezept auch digital signiert hat, bis die Patient:innen in der Apotheke sind. Das kann ich ohne App als Patient:in wiederum nicht prüfen. Da der Zugang in die TI aber für die Praxen so zeitaufwendig ist, signieren die Arztpraxen die E-Rezepte teils nicht direkt, sondern nutzen eine Stapelsignatur am Ende des Tages, die eigentlich für weniger dringende Dokumente wie eArztbriefe und eAUs geschaffen wurde, statt einer sofortigen Komfortsignatur, bei der der Zugang zur TI auch nur einmal in 24 Stunden für bis zu 250 Dokumente hergestellt werden müsste. Das muss man durch die Beobachtung der Prozessabläufe aber erst einmal erfahren, um nun für entsprechende Aufklärung bezüglich besagter Komfortsignatur zu sorgen – und so letztlich für Praxis als auch Patient eine gute UX sicherzustellen.
Darüber hinaus kann UX als Disziplin auch helfen, die richtigen Mehrwerte zu bringen. Heute sind die meisten elektronischen Patientenakten noch komplett leer. In Zukunft müssen wir schauen, inwieweit die Versicherten durch die elektronische Patientenakte echte Mehrwerte erfahren können, damit sich der Registrierungsaufwand für sie auch lohnt.
Was können Krankenkassen, Arztpraxen, oder auch Apotheken denn nun tun, um sich diesen Herausforderungen zu stellen?
Erst einmal weiter darum kämpfen, mitgestalten zu dürfen. Gesetze, regulatorische Vorgaben und Spezifikationen wurden aus meiner Sicht viel zu lange ohne Einbezug der verschiedenen Nutzergruppen gemacht.
Für mich als UX Researcher einer gesetzlichen Krankenkasse sind natürlich erst einmal die Versicherten selbst die Expert:innen, um herauszufinden, wie wir in Zukunft die digitalen Services im Gesundheitswesen gestalten müssen, um eine gute Nutzerführung und auch inhaltlich einen wirklichen Mehrwert zu bieten. Mit einer Anmeldung in unserem digitalen Expert:innen-Club können sie im Rahmen von Umfragen, Interviews, Nutzertests und anderen Studienformaten mitgestalten.
Gibt es hier gute oder auch schlechte Beispiele aus dem Markt bzw. dem Gesundheitssystem?
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) müssen als Medizinprodukt u. a. einen Nachweis über die Gebrauchstauglichkeit (nach IEC-62366) erbringen. Das ist gut, weil UX bzw. Usability-Engineering gewissermaßen schon einmal einen gesicherten Platz am Tisch hat. Und ich kenne aus dem Bereich auch ein paar UXler:innen, die darüber hinaus viel User Research betreiben, um die Bedürfnisse der Nutzer:innen zu treffen – über die Pflicht hinaus einen positiven Versorgungseffekt nachzuweisen.
Von der gematik sehe ich auch immer mehr Bemühungen, mit den verschiedenen Nutzer:innengruppen zu sprechen, Arbeitsabläufe zu beobachten und somit Spezifikationen nicht mehr „im dunklen Kämmerlein“ zu schreiben.
Es gibt inzwischen auch einige Ärztinnen und Ärzte sowie auch Apothekerinnen und Apotheker, die in sozialen Medien wie LinkedIn laut werden und von ihren Erfahrungen berichten. Ich glaube, das hilft auch dem Verständnis und öffnet wiederum den verantwortlichen Stellen wie der gematik die Tür für eine Co-Creation oder eine Shadowing-Session anzuklopfen.
Was ist der drängendste „Pain“ des gesamten Systems aus Deiner Sicht?
Ich denke, die Bedürfnisse der verschiedenen Nutzergruppen, die regulatorischen Bedingungen und die technischen Möglichkeiten übereinander zu legen ist der Schlüssel, um am Ende eine bessere, aber auch kosteneffizientere Versorgung zu ermöglichen. Datensichere und zugleich niederschwellige Anwendungen mit den aktuellen technischen Systemen zu schaffen, ist aber leider aus beschriebenen Gründen gar nicht so leicht.
Was glaubst Du, was ist notwendig bzw. erforderlich, um das zu lösen?
Das ist laut der eingangs zitierten Studie die 42-Mrd.-Euro-Frage. Wenn wir uns Mühe geben, die Alltagsprobleme der Nutzer:innen besser zu verstehen und daraufhin die richtigen Mehrwerte entwickeln, bin ich zuversichtlich, dass es gelingen kann. Das bedeutet im Zweifel aber auch, dass wir die Freiräume schaffen müssen, um die rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen im Sinne der bestmöglichen User Experience hinterfragen zu können. Wenn ein Mehr an Nutzer:innen bereits am Zugang scheitert, müssen andere Möglichkeiten gefunden, die genauso sicher sind, um da nur ein Beispiel zu nennen.
Ende des letzten Jahres wurden 2 Gesetze verabschiedet. Das DigiG und das GNDG. Wie bewertest Du diese Vorstöße vom Staat?
Das Digitalgesetz (DigiG) setzt ja erst einmal die Rahmenbedingungen, damit die Digitalisierung nun richtig in den Gang kommt. Hier müssen wir, wie bereits beschrieben, nun aber auch für eine entsprechende User Experience sorgen, damit die geschaffenen Möglichkeiten ein Erfolg werden. Kritisch sehe ich da ganz persönlich als UXler, dass weiterhin die Nutzung der TI auch durch Sanktionen gegenüber den Leistungserbringenden durchgesetzt werden soll. Das wäre aus meiner Sicht noch ein schlechtes Beispiel, nach dem du vorhin fragtest.
Digitalisierung sollte mit Mehrwerten und letztlich einer guten User Experience überzeugen. Es sollte durch die Nutzung eine Gratifikation im Sinne eines positiven Erlebnisses erzeugt werden – und nicht mit Sanktionen die Nutzung erzwungen werden müssen. Das schafft von vornherein negative Gefühle. Hier sehe ich ein Versagen der User Experience, an dem wir mit dem Erbringen der richtigen Mehrwerte und Leistungsversprechen dringend nachbessern müssen.
Im Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) schlummert wiederum für die Kassen ein großes Potential die Daten der Versicherten für eine bessere Vorsorge und Versorgung durch individuelle Hinweise an die Versicherten nutzen zu können. Die Kassen könnten hier aus der primären Stellung eines Bezahlers herauskommen und eine Lotsenfunktion für die Versicherten einnehmen. Da schlummert letztlich auch viel Potential für eine gute User Experience, aber eben auch eine große Aufgabe.
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